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Unternehmen wandern ab, Arbeitsplätze brechen weg

Eine Gewerkschaft springt über ihren Schatten: "Bündnis zur Arbeit" lautet das Angebot der IG Metall zur Tarifrunde 1997. Hinter dem Pakt verbirgt sich das Angebot einer Nullrunde für 3,5 Millionen westdeutsche Metallarbeitnehmer. Voraussetzung: die Zusage von Bundesregierung und Arbeitgebern, 300 000 zusätzliche Jobs zu schaffen, auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten und den Sozialabbau zu stoppen.

Wenn die Unternehmen der metallverarbeitenden Industrie zudem garantieren, in den kommenden drei Jahren 30 000 Langzeitarbeitslose einzustellen und die Zahl der Ausbildungsplätze um jährlich fünf Prozent zu steigern, ist IG-Metallchef Klaus Zwickel sogar bereit, ein Metaller-Tabu zu brechen: Langzeitarbeitslose sollen beim neuen Jobanstieg auch unter Tarif beschäftigt werden dürfen.

Auch wenn Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann den Vorschlag Zwickels als "überflüssig" ablehnt: Mit diesem sensationellen Schritt bekundet die IG Metall Bereitschaft, den drohenden Niedergang der deutschen Industrie abwenden zu helfen.

Über allen Schloten herrscht Ruh`: Wenn das Tempo des Arbeitsplatzabbaus im produzierenden Gewerbe anhält, wird die Horrorvision vom verödeten Industriestrandort Deutschland bereits im kommenden Jahrzehnt Wirklichkeit. Noch nie verlief der Verfall so schnell wie heute: Seit 1990 wurden in der Industrie 2,2 Millionen Jobs vernichtet. Nur noch jeder dritte Erwerbstätige arbeitet heute in der Produktion – noch vor 25 Jahren beschäftigte die Industrie halb Deutschland.

Dramatischer Abbau: Die einstige Exportlokomotive Maschinenbau strich seit 1990 knapp eine halbe Million Arbeitsplätze. "Die Abwanderung von Fertigung wird weitergehen", macht der Präsident des Maschinenbauverbands, Michael Rogowski, Hoffnungen auf einen helfenden Boom zunichte.

Täglich kündigen namhafte Konzerne neue Streichorgien an. Selbst Spitzenverdiener greifen zum Rotstift. Zuletzt knickte auch der Mittelstand ein: "Wir beobachten eine rasch wachsende Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland", analysiert Handwerkspräsident Heribert Späth den Exodus der Kleinunternehmen gen Osten.

"Allein in diesem Jahr werden deutsche Unternehmen im Ausland 40 Millionen Mark investieren", bestätigt Hans Peter Stihl, Unternehmer und Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstags, "das ist mehr, als ausländische Firmen im letzten Jahrzehnt bei uns investierten."

Ende nicht in Sicht. "Insgesamt dürften in den nächsten fünf Jahren noch einmal zwei bis drei Millionen Arbeitsplätze betroffen sein, prognostiziert Tom Sommerlatte. Dieser Effekt werde nur zum Teil durch Wachstum und andere Sektoren wettgemacht, fürchtet der Europachef der Unternehmensberatung Arthur D.Littl – Deutschland auf dem Weg ins Industriemuseum.

Die Unternehmer nennen Gründe für den Arbeitsplatzabbau oder die Flucht ins Ausland.

Die Stärke der Mark. "Seit 30 Jahren wird die Mark aufgewertet. Das hält selbst der beste Standort nicht aus", analysiert Heiner Flassbeck, Konjunkturexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.

Scharf wendet er sich gegen die Politik der Währungshüter: "Die Bundesbank hätte schon Anfang 1994 mit niedrigeren Zinsen gegensteuern sollen. Statt dessen erhöhte sie die Zinsen bis Ende 1994." Das schaffe die Rezession.

Löhne und Gehälter: 43,97 Mark verdient ein deutscher Arbeitnehmer im Durchschnitt, beim Nachbarn Niederlande gibt es nur 34,87 Mark, Tscheche kassieren gerade mal 3,01 Mark.

Fluch des Fortschritts: "Moderne Technologien verdoppeln die Produktivität", so der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft Hans-Jürgen Warnecke. Kehrseite der Medaille: Jeder zweite Arbeitsplatz fällt weg

Wer nicht rationalisiert, geht unter. Andere wandern aus: Die arbeitsintensive Textilindustrie beschäftigt genau so viele Menschen jenseits der Grenzen wie daheim – jeweils 300 000.

Der Trick gen Osten oder Süden – Hauptsache billig – bringt Deutschlands Oberindustriellen Hans-Olaf Henkel in Rage: "Deutschland ist Weltmeister im Export von Arbeitsplätzen", wettert der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Seine Rechnung: 300 000 Arbeitsplätze wurden seit der Wiedervereinigung ins Ausland verlagert. Unternehmensberater Hans Seifert begründet: "Wir müssen Arbeitsplätze verlagern, um Kernkompetenzen im Land halten zu können."

Notwendig ist hier die Änderung der Rahmenbedingungen: Strukturwandel, Steuerreform, weniger Bürokratie und mehr Flexibilität in der Arbeit sind nur die drängendsten Punkte.

Wachstum durch Innovationen. Das ist die Hoffnungsformel von Manfred Kuhlmann. "Das Jammern muss endlich aufhören, die Unternehmen konzentrieren sich zu sehr auf Reengineering und Kostenabbau", kritisiert der Geschäftsführer der Beratungsfirma Mercer Management Consulting. Nur Innovationen könnten eine industrielle Brache in Deutschland verhindern.

Einen solchen Kurs honoriert auch die Börse, die eine bessere Nase haben soll. Die jüngste "Mercer Wachstumsstudie" bei weltweit 2000 Konzernen – darunter die 500 größten in Deutschland – ergab Erstaunliches: Der Börsenwert von Unternehmen stieg nach Kostensenkungen im Schnitt um zwölf Prozent. Firmen, die zu den Einsparungen auch Wachstum vorwiesen, legten sogar um fast 20 Prozent zu.

Innovative Unternehmen sind gefragt: 26 Milliarden Mark ist die Aktie der erst vor rund 20 Jahren gegründeten Walldorfer Softwarenfirma SAP wert. Ihre Idee: Integrierte Standardprogramme steuern gleichzeitig Rechnungswesen, Fahrzeugpark und Personalbüro. Von dem innovativen Feuerwerk profitieren die SAP-Mitarbeiter. Seit 1990 verdoppelte sich deren Zahl auf knapp 3600 im Inland – allen Schmähungen des Standorts Deutschland zum Trotz.

Auf Made in Germany setzt auch VW-Chef Ferdinand Piech. Am Hochlohnstandort Deutschland will der VW-Lenker den geplanten Kleinwagen EA 420 produzieren.

Dann hätte IG-Metall-Chef Zwickeldie ersten 3000 geforderten Arbeitsplätze im Sack, um seine angekündigten Zusagen wahrmachen zu können.



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